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Tschernobyl

Kurzform von Prof. Dr. W. Stoll:                              

Am 26.April 1986 war fĂŒr die frĂŒhen Morgenstunden im Reaktor Tschernobyl IV ein Versuch vorgesehen, bei dem mit der Schwungmasse der auslaufenden Dampfturbinen bei Abschaltung aller Ă€ußeren Stromquellen das sichere Abfahren des Reaktors demonstriert werden sollte, wie das auch schon bei anderen Reaktoren desselben Typs nachgewiesen worden war.

Der Ehrgeiz der wenig geschulten Mannschaft, trotz einer unplanmĂ€ĂŸig Stunden davor geschalteten Niedriglastphase ein positives Versuchsergebnis fĂŒr die Feiern zum 1.Mai rechtzeitig berichten zu können, fĂŒhrte zu der Katastrophe. Die TrĂ€gheit und auch FunktionsuntĂŒchtigkeit einiger Meßsysteme, sowie die zu spĂ€te und falsche Reaktion auf einen sich abzeichnenden gefĂ€hrlichen Betriebszustand (der nur diesem Reaktortyp eigen ist!), fĂŒhrten dann zu zwei aufeinanderfolgenden Explosionen, in deren Folge der Graphit des Moderators anfing zu brennen.Etwa 3%, vor allem die gasförmigen und flĂŒchtigen radioaktiven Spaltprodukte (I-131, Cs-137), die in den 18o t Uran des Reaktors enthaltenen waren, stiegen als Wolke in die AtmosphĂ€re auf und breiteten sich in den folgenden Tagen mit wechselnden Windrichtungen aus.

Am eigentlichen UnglĂŒcksort war die Strahlung mit Ausnahme der ausgeworfenen TrĂŒmmer zunĂ€chst weniger stark, als befĂŒrchtet, weshalb eine Löschmannschaft eingesetzt und der Reaktor nach einigen vergeblichen AnlĂ€ufen schließlich 4 Tage spĂ€ter gelöscht war. Es sind 31 Tote infolge Explosion und Strahlenkrankheit zu verzeichnen.

Rettungspersonal mit akutem Strahlensyndrom nach dem Unfall (nach UNSCEAR2000):

Grad

Dosisbereich in Gy

Patienten in Moskau

Patienten in Kiew

Anzahl der Toten

Prozent

mild (I)

0,8 - 2,1

23

18

0

0

mittel (II)

2,2 - 4,1

44

6

1

2

schwer(III)

4,2 - 6,4

21

1

7

32

sehr schwer (III)

6,5 - 16

20

1

20

95

Total

0,8 - 16

108

26

28

-

 


.

 

 

 

Liquidatoren (UNSCEAR2000):

1986

187 000 Personen

170 mSv

1987

107 000 Personen

130 mSv

1988

45 000 Personen

30 mSv

1989

42 500 Personen

15 mSv

 

 

 

FĂŒr die Russischen Strahlenfachleute war entscheidend, dass man die zu erwartenden Folgen aus einer so hohen Bevölkerungsdosis relativ zuverlĂ€ssig aus den Analysen des 1957 im Umfeld der Waffenanlagen um Tscheljabinsk 40 ableiten konnte. Dort bestand das Spektrum der freigesetzten Stoffe aber vorwiegend aus lĂ€ngerlebigen Radionukliden, die in der Bevölkerung trotz hoher Gesamtdosen aus dem inkorporierten Strontium keine erhöhte LeukĂ€mie auftrat. Über die Wirkungen des kurzlebigen radioaktiven Jods und CĂ€siums in Tschernobyl war man dagegen unsicher. Die daraus abgeleitete Behandlung der Bevölkerung durch Jodgaben und die Reaktion auf das in Boden, FeldfrĂŒchten, Milch und Fleisch auftretenden Jod- und CĂ€siumaktivitĂ€ten war daher nicht optimal und haben wahrscheinlich mit zu den erst spĂ€ter aufgetretenen 1036 FĂ€llen von SchilddrĂŒsenkrebs bei Kindern (bis 1998) beigetragen, von denen durch gezielte Behandlung bisher „nur“ 3 TodesfĂ€lle zu beklagen sind (weit ĂŒber 200 Kinder wurden in Deutschland betreut).

NatĂŒrlich hatten die massiven Ängste in der betroffenen Bevölkerung, der Heimatverlust durch Umsiedlungen, die, wie man heute weiß, oft nicht nötig gewesen wĂ€ren, und der allgemeinen Versorgungsnotstand zusĂ€tzlich Opfer gefordert. Es ist aber nicht sachgerecht, alle TodesfĂ€lle und Missbildungen, die seither in den insgesamt etwa 3,2 Millionen Menschen in der Gruppe der um das zehnfache ĂŒber der normalen Umgebungsbelastung erhöhten Strahlenbelastung aufgetreten sind, unreflektiert dem Reaktorunfall anzulasten.

Über die Folgen von Tschernobyl gibt es ausfĂŒhrliche Berichte internationaler Expertengremien. Herausgreifen möchte ich :

  • den Bericht des „United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation“ fĂŒr die UNO-Generalversammlung „UNSCEAR 2000“, Annex J “Exposures and effects of the Tschernobyl accident”, United Nations Publication, Sales No. E.00.IX.4, ISBN 92-1-142239-6
  • und fĂŒr Deutschland den im Auftrag des Bundesministers fĂŒr Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erstellten BMU-Sachstandsbericht Nr. 1 der Gesellschaft fĂŒr Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), mbH, Köln, GRS – S – 47 „Tschernobyl: Gesundheitliche Folgen“, Dezember 2000.

Die beiden Berichte stimmen in ihren Aussagen gut ĂŒberein und andere Berichte bestĂ€tigen ebenfalls die Ergebnisse. Die Folgen des Tschernobyl-Unfalles sind unter die grĂ¶ĂŸten einzureihen, die industrielle TĂ€tigkeit in ihrem Umfeld bisher ausgelöst haben. Es ist aber festzuhalten, dass besonders die befĂŒrchtete HĂ€ufung von Blutkrebs (=LeukĂ€mie), deren HĂ€ufung nach Überdosisbelastung schon nach wenigen Jahren sichtbar wird, bisher nicht eingetreten ist (wie die Russischen Strahlenfachleute schon anfangs vorhergesagt hatten). Das lĂ€sst erwarten ,dass auch alle langsamer anlaufenden, anderen Krebsarten nicht ĂŒberhöht sein werden. Es gibt auch bisher in keiner Bevölkerungsgruppe strahlenbedingte Zunahmen von Missbildungen bei Neugeborenen. Aufgrund der real vorhandenen Dosen wird auch weder eine genetische SchĂ€digung, die bei Menschen ganz allgemein ohnehin bisher nicht nachgewiesen werden konnte, erwartet.

Bei der Berichterstattung treffen mehrere sich gegenseitig verstĂ€rkende Überhöhungsmechanismen zusammen: Einmal konnte damit die menschenverachtende Politik und das technische Versagen einer komplizierten Technik im Sowjetsystem gegeißelt werden. Dann war es der erste Unfall einer Technik, denen die Gegner einen Ă€hnlichen Hergang immer prophezeit hatten, wobei die daraus freigesetzten Radionuklide auch noch in Bereichen und Konzentrationen gefunden und gemessen werden konnten, die zwar fĂŒr die Menschen im ĂŒbrigen Europa unschĂ€dlich, aber vorzeigbar waren. Schließlich hat der durch Übertreibungen ausgelöste Mitleidseffekt den EmpfĂ€ngerlĂ€ndern, vor allem der spĂ€ter eigenstĂ€ndig gewordenen Ukraine, die dem Sowjetsystem besondere, auch national eingefĂ€rbte Ablehnung entgegenbrachte, erhebliche Fördermittel und Verbesserungen der schlechten GesundheitsfĂŒrsorge gebracht.

Man kann im ĂŒbrigen leicht ausrechnen, dass in den vergangenen 15 Jahren in einer Bevölkerung von 3,2 Millionen, die immer als Basis genommen wird, aus der Summe aller natĂŒrlichen Ursachen etwa 1% pro Jahr, also 480.000 Menschen gestorben sein dĂŒrften. Derlei Zahlen dem UnglĂŒck von Tschernobyl alleine zuzurechnen erzeugt zwar ein eintrĂ€gliches Mediensignal, ist aber offenkundig falsch.

In den letzten Jahren sind sogar in Russland die Reaktoren dieses Typs, von denen es immer noch 14 gibt, soweit sicherheitstechnisch nachgerĂŒstet worden, dass zwar immer noch UnfĂ€lle, aber keine mit so gravierenden Folgen mehr eintreten können. Es ist seither auch kein neuer Reaktor dieses Typs, der im Rest der Welt, mehr gebaut worden.

FĂŒr wassermoderierte und –gekĂŒhlte Reaktortypen, wie sie in Deutschland betrieben werden, sind solche Leistungexkursionen aufgrund physikalischer Grundgesetze nicht möglich. (siehe hierzu „Wie funktioniert ein Kernkraftwerk?“)

Die Hysterie in Deutschland um die Kernenergie macht es unseren exzellent ausgebildeten Reaktortechnikern und Sicherheitsingenieuren nicht leicht auf die Sicherheitskultur in LÀndern, wie Russland, einwirken zu können. Wenn wir in Deutschland, mit den sichersten Kernkraftwerken weltweit, planen aus der Kernenergie auszusteigen, dann kaufen wir möglicherweise in absehbarer Zeit, Strom aus unsicheren osteuropÀischen Kernkraftwerken. Diese denken nÀmlich gar nicht daran aus der Kernkraft auszusteigen, nur weil es die Deutschen tun. So blieben auch bei einem deutschen Ausstieg unsichere Reaktoren um uns herum. Und wenn Tschernobyl eines gezeigt hat, dann das, dass ein Reaktorunfall mit Freisetzung von RadioaktivitÀt auch die NachbarlÀnder betreffen wird.

 

Langform mit allen Fakten

Downloads: Beitrag von Karlheinz Orth als pdf-Datein (sehr empfehlenswert; ĂŒbersichtlich!)