3.5
Spaltproduktvergiftung und Abbrand
Dieses
Kapitel ist recht umfangreich und erfordert einen Ausflug
in die Reaktorphysik, da die Herkunft der Vergiftung und der
Zusammenhang mit der Reaktivität im Core komplex ist.
Das Kapitel sei daher aufgeteilt.
Zur
Reaktivitätsminderung im Core tragen bei:
a)
Abbrand
b) Spaltproduktvergiftung (Beispielhaft an Xe-135 demonstriert)
Eine
weitere Rolle spielen in diesem Zusammenhang:
c)
die Überschussreaktivität
d) die Stellung der Steuerstäbe
e) abbrennbare Gifte im Reaktor sowie
f) die Borkonzentration im Kühlmittel
a)
"Abbrand"
bezeichnet den Verlust an Reaktivität der Brennelemente,
der sich im Laufe der Zeit durch die Kernspaltungen und den
damit einhergehenden Konzentrationsabfall von U-235-Kernen
in den Brennelementen einstellt. Ein Teil des Konzentrationsabfalls
wird durch die Entstehung von spaltbarem Pu-239 [*] aufgefangen.
Kurz gesagt: Durch die Spaltung von U-235-Kernen wird der
Vorrat an U-235 in den Brennelementen "verbraucht"
- "er brennt ab".
b)
Neben
dem Effekt des Abbrandes hat die Entstehung von Spaltprodukten
auch Einfluss auf die Reaktivität des Reaktorkernes (der
"Core"). Aus energetischer Betrachtung sind hierbei
Spaltprodukte von Bedeutung, die einen hohen Einfangwirkungsquerschnitt
[**] haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem
das Edelgas Xenon und das Metall Samarium. Näher betrachtet
werden soll das Xenonisotop Xe-135, an ihm sei die Wirkung
von "Neutronengiften" näher erklärt.
Die
Konzentration von Xe-135 ist im hohen Maße von der Betriebsdauer
des Reaktors und der gefahrenen Leistung abhängig. Hohe
Leistung bedeutet hohe Spaltproduktkonzentration und damit
hohe Vergiftung. Xe-135 hat die Eigenart, bereits nach kurzer
Betriebszeit grosse Wirkung auf die Reaktivität des Reaktors
auszuüben.
Ein
kurzer Ausflug in die Xe-135-Enstehung:
Xe-135
entsteht nur zu einem geringen Teil direkt aus der Spaltung
(man spricht von "Spaltausbeute"), primür entsteht
es aus der Zerfallkette des Tellur-135 (Te-135), dieses entsteht
mit hoher Ausbeute direkt aus der Spaltung. Te-135 zerfällt
innerhalb von etwa 2 Minuten unter Aussendung von Beta-Teilchen
zu I-135 (Jod-135). Es erfolgt nach etwa 6,7 Stunden der Zerfall
von I-135 (ebenfalls unter Beta-Aussendung) zu Xe-135.
Das
entstandene Xe-135 ist für etwa 9,2 Stunden stabil, zerfällt
dann weiter in Caesium (Cs-135) und nach 2 Mio. Jahren zu
Barium (Ba-135). Letzteres ist stabil, d.h. es Zerfällt
nicht spontan.
Während
dem Leistungsbetriebs des Reaktors verläuft parallel
zum Betazerfall des Xe-135 ein Neutroneneinfang ab. Das führt
relativ rasch zur Entstehung von stabilem Xe-136, d.h. während
konstantem Leistungsbetrieb bleibt die Xe-135-Konzentration
im Core relativ konstant.
Man
spricht von der Xenon-Gleichgewichts-Konzentration, sie wird
nach etwa 40 bis 50 Stunden Leistungsbetrieb erreicht.
Die
Auswirkung der Fahrweise des Reaktor ist qualitativ in folgendem
Bild verdeutlicht:
A:
Anfahren und Betrieb des Reaktors mit unvergiftetem Kern
B: Zu t = 60h erfolgte eine Reaktorschnellabschaltung (RESA)
C: Verlauf nach einer Leistungsreduktion zu t = 60h
D: Aus dem Leistungsniveau C wurde zu t = 160h das Leistungsniveau
auf das in A erhöht.
Wie
erklären sich diese Kurven?
A:
nach 40-50 Stunden ist die schon erwähnte Xenon-Gleichgewichts-Konzentration
erreicht, die Konzentration bleibt konstant.
B:
Die RESA führt zu einer sofortigen Unterbrechung der
Kettenreaktionen, somit also auch zur Unterbrechung der Neutronenerzeugung.
Die parallel zum Zerfall von Jod zu Xe-135 verlaufende Umwandlung
in Xe-136 durch Neutroneneinfang bleibt also aus.
C:
Die Xe-135-Konzentration verläuft ähnlich wie in
B, jedoch ist die Xe-136-Produktion nicht auf Null zurück
gegangen. Es stellt sich etwa 60h nach der Leistungsreduktion
eine neue, geringere Gleichgewichtskonzentration ein.
D:
Die Leistungserhöhung lässt die Konzentrationskurve
einbrechen. Ursache dafür ist, dass momentan mehr Xe-136
erzeugt wird, als Xe-135 entsteht. Auch hier stellt sich ein
neues Gleichgewichtsniveau ein.
Übrigens:
Die Xenon-Konzentration spielte auch in Tschernobyl eine Rolle.
Es
wird also deutlich, dass die Xenon-Konzentration bzw. die
Konzentration von Neutronengiften im Core eine wesentliche
Rolle bei der Steuerung des Reaktors spielen.
Soll
beispielsweise nach einer RESA der Reaktor wieder angefahren
werden, so muss man warten, bis der Xe-Berg (B in obiger Abbildung)
durchlaufen ist. Andernfalls muss man durch das Verstellen
der Steuerstäbe zusätzliche Reaktivität im
Kern freigeben. Diese Fahrweise wird gegen Ende der geplanten
Brenndauer der Brennelemente vielleicht unmöglich, da
die dafür nötige Überschussreaktivität
schon verbraucht ist.
Neutronengifte
im Core sind unweigerlich vorhanden. Man kann den Abbau der
Reaktivität aber vermindern, dazu stehen eine Reihe von
Möglichkeiten zur Verfügung, die auch ausgenutzt
werden.
c
und d)
In
den Brennelementen ist so viel Spaltinventar enthalten, wie
zur Erreichung der geplanten Brenndauer nötig ist, dem
sog. Zielabbrand. Er liegt in der Regel bei ca. 30MWd/kg.
Man berücksichtig aber bei der Bestückung auch die
sich einstellenden Verluste durch die Spaltproduktvergiftung.
Man spricht von Überschussreaktivität.
Die
Vorhandene Überschussreaktivität wird durch die
Steuerstäbe im Core gebunden, damit die Leistungserzeugung
trotz zu hoher Reaktivität konstant bleibt. Und um eine
unnötig hohe Anreicherung der Brennelemente zu vermeiden,
werden die Brennelemente je nach Abbrand während der
Revision innerhalb des Cores umgelagert. Man erreicht somit
eine quasihomogene Verteilung der Energiedichte im Kern und
"spart" den Brennstoff, der ohne Umsetzung der Elemente
nötig wäre, um den Zielabbrand zu erreichen. Während
einem Brennelementwechsel müssen so nicht alle Brennelemente
ausgetauscht werden.
e)
Eine
weitere Maßnahme, um die Überschussreaktivität
im Core zu binden ist der Einsatz von abbrennbaren Neutronengiften.
Dazu werden Neutronenabsorber in einigen Brennelement fest
eingebaut. Sie bestehen meistens aus borhaltigen oder gadoliniumhaltigen
Elementen, auch Samarium wird hier benutzt. Ziel ist es, eine
Gleichgewicht zwischen abnehmender Überschussreaktivität
und Neutronenabsorbern zu erreichen, daher sind diese Elemente
"abbrennbar". D.h. mit steigender Betriebsdauer
nimmt das Absorptionsvermögen der Elemente ab. Im Idealfall
ist zu nach erreichen des Zielabbrandes völlig erschöpft,
so auch die Überschussreaktivität.
f)
Auch
der Konzentration von Bor im Kühlmittel kann die Reaktivität
gesteuert werden. Jede Druckwasseranlage hat aus sicherheitstechnischen
Gründen sog. Flutbehälter, die mit boriertem Wasser
gefüllt sind. Sie dienen auch im Störfall zur sicheren
Beherrschung der Reaktivität.
Fest
vorgeschrieben sind Konzentration und Menge des Borwassers.
(Anmerkung:
aktuell zu diesem Thema seien die bekannten Presseartikel
zum Kernkraftwerk Phillipsburg erwähnt)
Die
Borierung des Kühlmittels im normalen Betrieb kommt nur
für Druckwasserreaktoren, nicht für Siedewasserreaktoren
in Frage. Eine Borierung des Kühlmittels in Siedewasserreaktoren
hätte Ablagerungen von kristallinem Bor in der Anlage
zur Folge, da das Wasser direkt an den Brennstäben verdampft
und auf die Turbine geschickt wird. Dies muss insbesondere
in Hinblick auf die Turbine (Erosion) vermieden werden.
Die
Effekte a bis f werden in der Reaktivitätsbilanz, siehe
Kapitel 3.6 berücksichtigt.
Es
ist vielleicht aufgefallen, dass dieses Thema sehr komplex
ist. Es bietet aber eine hervorragende Möglichkeit, die
Vorgänge innerhalb eines Reaktors zu verstehen.
(Sascha
Greinke)
Fussnoten:
[*]:
Das Plutonium Pu-239 resultiert aus dem im Brennstab enthaltenen
U-238 durch Neutroneneinfang. Es entstehen dann U-239 und
Np-239 (Neptunium), der Betazerfall dieser Elemente erzeugt
spaltbares Pu-239.
[**]:
Einfangwirkungsquerschnitt:
Als
"Wirkungsquerschnitt" (WQ) wird die Wahrscheinlichkeit
der Wechselwirkung zwischen Atomkernen und Teilchen (also
auch Neutronen) bezeichnet. Dazu folgende Tabelle:
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